Leserbrief „Es war einmal…“

„Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken. Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen; jene jungen Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen — und sollen. Diese jungen Menschen müssen aber verstehen, dass auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben.“
Dieser historische Text stammt aus der Regierungserklärung von Willy Brandt vom 28. Oktober 1969!
Man könnte meinen, es sei gestern gewesen.
Ebenfalls könnte man meinen, es habe sich seitdem alles zum Guten gewendet. Seit gestern Abend bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Im Verlauf einer Hauptausschusssitzung des Gemeinderats der Gemeinde Leutesdorf kam es zu einer Wortmeldung des Sprechers der BI „Wir Leutesdorfer – Rettet die Rheinanlagen“. Er hat seinen Unmut darüber geäußert, dass abgesprochene Vereinbarungen, ohne jede Rücksprache mit der Bürgerinitiative ,über den Haufen geworfen wurden und der Gemeinderat eine Vorentscheidung in Sachen `BÜRGEBEGEHREN´ im nicht öffentlichen Teil der Sitzung treffen wollte. In diesem Zusammenhang hat er diese Vorgehensweise als unanständig bezeichnet. Die Reaktion der Mehrheit des Gemeinderats – er wurde ausgelacht.
Wir wollen mehr Demokratie wagen.
Ich kann seit gestern Abend die verstehen, die wir alle aus den Medien kennen und die man als „abgehängt“ bezeichnet. Die Menschen, die sich nicht mehr aufraffen, „weil man ja sowieso nichts machen kann“. Die Menschen, die resignieren, aber auch die, die einen anderen Weg wählen. Menschen, die sich von gefährlichen Individuen instrumentalisieren lassen, weil sie an der Stelle Gehör finden.
Wir sind glücklicherweise weit davon entfernt, in diese Richtung zu marschieren. Wir werden uns nicht durch diese Art der Demokratie von unserem Weg abbringen lassen und schon gar nicht von unserer Meinung.
Vielleicht überlegt sich das eine oder andere Mitglied des Gemeinderats, was es da gestern Abend gemacht hat.

Bernd Spitzley, 8.9.2020

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